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Alles mal anders sehen – was kulturelle Bildung kann

Ein Erfahrungsbericht der Kulturfachberaterin Antje Smorra

Alles mal anders sehen

– was kulturelle Bildung in SH kann

Antje Smorra

Ich sehe dich und mich und alle anderen - uns. Wir sind in einem Raum – gemeinsam. Wir lernen und leben und lavieren uns durch den Vormittag. Jede*r bringt die eigene kleine Biografie und die eigenen Strategien mit. Es ist bunt vielfältig und voller geladener Potentiale. Und ich trage die Verantwortung für das, was initiiert wird. Ich bin einfach Lehrerin.

Manchmal kommt mir mein Berufsalltag als Grundschullehrerin mit künstlerisch-kreativem Hintergrund dermaßen abgefahren vor, dass ich denke, ich bin in einem ausgeklügelten Theaterstück für Gesellschaftsthemen– Entschuldigung für die saloppe Ausdrucksweise.

Ich arbeite mit kleinen Potentialkraftwerken, alles ist jederzeit möglich. Hier leckt ein Kind den Tisch sauber, da fällt eines vom Stuhl, das andere bastelt schon seit Minuten an einem Bleistiftfallschirm aus den Materialien Bleistift und Coronamaske. Das andere hat einen Haufen bemalter Blätter auf seinem Tisch liegen, auf denen ein Comic mit Bananenhelden aus dem Weltall entsteht. Ein anderes arbeitet permanent an der Performance der Provokation – und das durchaus erfolgreich.  Und einige sitzen dort und warten auf ein Anfangssignal für die Stunde, den Tisch aufgeräumt, Federtasche und Heft parat.   Ich stehe dort und frage mich in Sekundenschnelle, denn mehr Zeit bleibt mir nicht, was sich hier in dieser Situation als guter Unterricht anbietet.

Sicher bin ich gut ausgebildet und aktuell informiert und weiß, dass es Bücher und Methoden gibt, die bewiesen haben, was guter Unterricht ist. Man denke da an Klippert oder Bostelmann. Hierbei geht es um Methoden wie wir Kinder zu einem selbstständigen Arbeiten bringen können. Das finde ich wertvoll, wirklich. Gerne habe ich mich mit Erstellung einer Lernumgebung beschäftigt, die genug Freiarbeitsmaterial, dabei auch eine Sicherungsebene anbietet und partizipatives Mitdenken ermöglicht. Alles wunderbar – auch wunderbar arbeitsintensiv, aber es lohnt sich. Es lohnt sich, um die Kompetenzen in Deutsch, Mathe, Sachkunde, Englisch usw. zu entwickeln – also Wissensaneignung und Transfer zu systematisieren.

Aber wo bleiben unsere kreativen Potentiale, die in anderen Bahnen denken, wirken, fühlen und tasten? Ich denke an all die mir wichtigen Künstler*innen, die Wege erforscht haben, die eben nicht in dieser Infrastruktur enthalten sind, weil sie so dermaßen originell sind, dass es eben noch keinen Weg dazu gab und die dabei doch ebenso systematisch und methodisch arbeiten wie unsere Lernwege des modernen, normierten Unterrichts.

Ich spreche von künstlerischer Begabung.

Kreativität ist möglicherweise die wichtigste Fähigkeit, die Schüler*innen für das 21. Jahrhundert erlernen müssen. Denn sie ist notwendig, um innovative Lösungen für die zahlreichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu entwerfen.

Künstlerische Begabungen als Möglichkeit für Bildung begreifen

Ich gehe also nochmal zurück, stelle die Zeit auf Zeitlupe und gucke mir die Kinder nochmal genau an und frage mich nach den Potentialen der Tätigkeiten, die den normierten Unterricht immer stören und diese Kinder dazu aufruft derartige Handlungen abzustellen. Ansonsten gibt es eben Ärger.

Ich nehme mir den Fallschirmbauer heraus. Ich sehe ein hochkonzentriertes Kind, das fokussiert in einer forschenden Haltung und der Arbeitsweise der Agilität sein Produkt optimiert, Befestigungsproblematiken durch Wickelmethoden versus Knotentechnik erprobt. Durch Ausprobieren erkennt es, dass der Widerstand des Schirmes – hier eine Hygienemaske – eine Auswirkung auf die Befestigungsverlässlichkeit hat. Das spielt aber wahrscheinlich keine zentrale Rolle in der Überlegung des Kindes, sobald das Problem durch Beobachten, Ausprobieren und Lösen behoben ist. Im Fokus und am Horiziont steht die Freude am Gleiten des Objekts und dem dadurch verbundenen emotionalen Hype. Wenn die Aufgabe gelöst ist, wird das Kind erfahrungsgemäß den Raum nutzen, um sein Werk anderen lautstark mehrmals vorzuführen, zu anderen zu laufen und mit ihnen in einen kommunikativen Austausch zu gehen. Vielleicht - sogar recht wahrscheinlich - würde dadurch eine Welle der Fallschirmproduktion in der Gruppe ausgelöst werden.

Oder sehen wir uns die Comiczeichnung der Bananenastronauten an. Es wurden Gestalten erfunden, die zeichnerisch darstellbar sind, einen Wiedererkennungswert haben und mittels Armen, Augen und Mündern emotionale Zustände widerspiegeln können. Dabei sind sie Helden der Verteidigung ihrer Welt (was macht diese aus?), die durch andere angegriffen werden.  Auch die Nachbarkinder dieses Tisches haben angefangen, Comics mit Bananenhelden zu zeichnen. Es finden rege Gespräche statt.

Der oder die Provokations-Performer*in reagiert auf die Umgebung im Hier und Jetzt und gibt sich ganz den prozessorientierten Provokationseffekten der Handlungen hin. Durch systematisch rhythmische Handlungen kann mit derartiger Aktion bis in die letzte Ecke des Raumes durchdringend gehandelt werden und die Wirkung der Handlung sofort erkannt werden. Sie erfasst jeden Menschen im Raum.

Was steckt in diesen Tätigkeiten, die hier stattfinden, als Bildung drin? Welche Potentiale unterdrücken wir, wenn wir diese Art von intrinsischer Motivation und Begabung nicht ernst nehmen?

Sicher sind es Fragen der Technik, der Technikentwicklung, der Sehnsucht nach der Schwerelosigkeit, der Eroberung der Raumes Luft, der Assoziation von Alltagsgegenständen zu Zweckentfremdung und Transformation.

Oder es sind Fragen der Erzählung, der Mythenbildung, des Kults um Figuren, der zeichnerischen Lösung, der Ethik von Welt, Krieg und Frieden,

Und auch der Frage von Resonanz, Gemeinschaft, Handlung und Manipulation, Atmosphären wird performative nachgegangen.

Ich würde sagen, dass es Fragen des Lebens sind.

Künstlerischen Begabungen für die Bildung im Unterricht wirksam machen, ohne sich in den Möglichkeiten zu verlieren – Wie kann das gehen?

Was stelle ich den Kindern zur Verfügung, die mir täglich zeigen, dass sie vor lauter Ideenreichtum und kreativer Impulse für den normalen Unterricht nur mit Widerwillen Aufmerksamkeit aufbauen? Vermittle ich ihnen ausschließlich, dass es wichtig ist, die eigenen Interessen zurückzustellen und sich dem Angebot zuzuwenden, das von der Schule organisiert wird? Ich denke, dass das fatal wäre. Vielleicht nicht nur fatal für diesen Menschen, der lernt, dass im gesellschaftlichen Kontext kein Raum für die eigenen Ideen vorhanden ist, sondern auch für uns als Gesellschaft wäre das ein Verlust an Transferdenken, Intuition, Transformation in ungewisse Bereiche und kreativer Forschung.

Also gilt es Räume aufzubauen, Bühnen in den Unterricht zu integrieren, die diese Form von Handeln auch außerhalb des Kunstunterrichts zulassen. Ich spreche hier von kultureller Bildung.

Künstler*innen im Schulunterricht mit Lehrkräften zusammen arbeiten zu lassen, ist Unterrichtsentwicklung und Begabtenförderung zugleich.

Das Programm Schule trifft Kultur  - Kultur trifft Schule in Schleswig- Holstein will eben diese Potenziale sehen und in Handlung bringen. Unterricht wird hier durch Tandems von Lehrer*innen und Künstler*innen gebildet. Es kommen also Fachleute für die Disziplin “Alles mal anders sehen” in die Schule und bilden mit den Lehrkräften ein Team, das die Bühne im Unterricht frei macht für das Andere, das künstlerische Handeln und Denken. Es ist der Raum für Innovation und Zukunftfragen. Es ist der nach vorne gerichtete freie Raum.

Was passiert hier für die Entwicklung von Unterricht an Schulen?

Was passiert hier, was dem Kind, das eine künstlerisch-forschende Begabung hat, hilft und damit sich auch in Zukunft in Gesellschaft auszahlt und bemerkbar macht?

Durch den Unterricht mit Künstler*innen im Klassenraum entsteht ein Fokus auf Verrücktes, neue Handlungen und andere Prozesse. Das Kind wird in eine Aufgabenstellung gestellt, die eine Problemlösung oder einen Suchvorgang aktivieren soll. Das bedeutet, dass der Unterricht explorativen Charakter hat, sich Aufgaben als unübersichtlich, dabei interessant und herausfordernd darstellen. Das Aufmachen in einen Lernprozess der Ungewissheit findet statt. Der Motor von guten Unterrichtsvorhaben in der kulturellen Bildung ist, mit Interesse etwas zu untersuchen, auszudrücken, herzustellen und etwas zu zeigen.

Hierbei können sich die zwei begleitenden Menschen im Tandem - hier Lehrer*in und Künstler*in -stärken und gegenseitig reflektierende Hilfe sein in Bezug auf die Beobachtungen und Entscheidungen im Geschehen. Das Begleiten von offenen Prozessen erfordert eine hohe Konzentration, eine Wachheit, Können und agiles Arbeiten. 

Der entscheidende Moment in der Unterrichtsgestaltung ist, dass sehr deutlich gemacht wird, dass das, was entstehen wird, noch allen Beteiligten inklusive der Lehrenden, nicht bekannt ist.

Dadurch wird die Frage bei den Lernenden – ob Kind, Jugendliche oder Erwachsene – anders ausgerichtet. Von einer Suche nach der bekannten Lösung, Antwort oder Erscheinung wird die Suche auf die eigene Intuition und Fragestellung, Biografie und sinnbringende Strategie gerichtet.

Das ist interessant und weckt Potentiale verschiedenster Couleur.

Nun sehen wir uns Unterricht in der Praxis an, der diese Komponenten nutzt. 

Ausgangspunkt von Unterricht ist eine Fragestellung, eine Irritation

Möglich ist, um die Lernenden aus ihrer bisherigen Vorstellung von Unterricht zu befreien, ihnen anders zu begegnen und mittels eines Perspektivwechsels andere Fragen zu stellen. Hier ist das Auftreten von einer neuen Person – der Künstler*in – interessant, weil sie noch wie ein unbeschriebenes Blatt wirken kann. Diese Fragen im Perspektivwechsel können von den Lernenden auch partizipativ mit entwickelt werden. Das aktiviert ein freies kritisches Denken und überwindet normierte Lernstrategien der eigenen Schul- und Lernbiografie. Dabei werden die Potentiale, die oft bei hochbegabten Menschen keine gute Resonanz bekommen, aktiviert und frei, denn das Anders-Denken ist hier Innovation und Einstieg für einen neuen Pfad, auf den sich die Lernenden begeben werden. Zudem können so alle Inspiration für alle Beteiligten sein.

Die Entwicklungen im Unterrichtsgeschehen sind offen und prozessorientiert – Scheitern als den kreativsten Potentialmoment begreifen

Es ist allen Beteiligten klar, dass der Prozess an Punkte kommen wird, die zu einem kreativen Vorgang unbedingt gehören.

Da sei genannt:

  1. Der Anfängergeist der inspirativen Idee,
  2. Das Scheitern an den eigenen Unfähigkeiten und an der Diskrepanz  zwischen Idee und Wirklichkeit, 
  3. Das neue Betrachten des Geschehens, 
  4. Erkennen der Möglichkeiten, Recherche der Erfahrungen anderer dazu und 
  5. erneut kreativen Aufnahme des Geschehens, indem sich Möglichkeit mit Wirklichkeit angleicht und damit etwas Größeres passieren kann als das Individuum selber ahnt und vorausdenken konnte.

Es ist also unbedingt wichtig, für alle Lehrenden und Lernenden die Phasen des Scheiterns und der Mühe als produktiven Schritt zu begreifen und durch eine gute Begleitung des Fragens und gemeinsamen Ergründens, Lösungen und Gestaltungskräfte neu aufzubauen.

Wie begleiten wir Menschen in diesem Geschehen?

In der Praxis hat sich gezeigt, dass die Phase des Scheiterns ein sehr wertvoller aber auch schwieriger Moment ist. Das ist der Moment, in dem der Wille und die Sinnbildung stattfindet.

Wenn ich die Impulse der Schüler*innen wahrnehme, die dieser Artikel anfangs beschrieben hat und aus diesen Ideen kreativen Unterricht gestalte, indem ich eben diese Themen in einen ernsthaften Prozess bringe, dann kann ich die Schüler*innen nach dem befragen, was sie damit bewirken möchten. Das kann sein, dass eben etwas fliegt oder dass alle mich bemerken, wenn ich provoziere oder dass ich eine Welt neu erfinde und und und.

Mit dieser Frage nach dem Warum habe ich die Ausrichtung des Vorhabens definiert.

Im Prozess kann ich durch unterstützende Fragestellungen immer wieder auf dieses Warum hinweisen und überlegen, welche Wege mich dorthin führen können. Das nennt man auch kreatives Arbeiten. In diesem Feld sind Künstler*innen und Kulturschaffende sehr erfahren, da es ein Teil ihres professionellen Arbeitsvorgangs ist. Sie können Sicherheit, Zuversicht und Freude in diesen Scheiterphasen an die Schüler*innen authentisch weitergeben. Auch die Lehrkraft kann mit Hilfe ihrer Beziehungsebene das Kind “beruhigen” und „Sicherheit in der Unsicherheit“ geben.

Der Weg ist nicht festgelegt und der Horizont der Fragestellung führt durch das Geschehen. So kann der Gefahr einer Beliebigkeit von kreativem Unterricht begegnet werden.

Welche nachhaltigen Gewinne bringt ein kreativer explorativer Unterricht mit Künstler*innen im Tandem?

Ich habe die Erfahrung gemacht, das Gruppen, die einen kreativen Vorgang gemeinsam durchlebt haben, reflektierter und lösungsfreudiger arbeiten.

Das Erleben von “Das hat jede*r auf seine Art geschafft” und “Am Ende kam etwas Überraschendes und Wertvolles heraus” stärkt Menschen, lässt sie ihre individuellen Fähigkeiten nutzen und öffnet ein Arbeiten, in dem auch eigene Strategien angewendet werden dürfen und auf Stärken vertraut werden kann.

Auch das Erleben eben durch ein Verzweifeln und Versagen im Scheiterprozess zu einem anderen Ende zu kommen, dass sich individuell und in der Gruppe lohnt, ist ein wichtiger Schritt in der Bildung.

Regelunterricht greift leider oft noch zu kurz, um diese Arbeits- und Entwicklungsphasen möglich zu machen.

Gerade in Hinblick auf unsere Zukunft sind aber diese Bildungserlebnisse und Erfahrungen des explorativen Arbeitens unbedingt nötig, um reflektierend und kreativ zu handeln. Auch das Durchhalten von der Idee oder einem Impuls bis zu einem noch unbekannten Ergebnis, das Sinn und Freude macht, muss noch viel mehr in Schule vermittelt und erlebbar gemacht werden.

Lasst uns unsere „verrückten“ Kinder nehmen und ihnen ernsthafte Unterrichtsprozesse zu ihren Fähigkeiten anbieten.

Ich glaube, wir werden alle staunen was am Ende herauskommt und wie viel wir dabei gelernt haben.